VNN im Gespräch
Micha Pallesche, Rektor der Ernst-Reuter Gemeinschaftsschule in Karlsruhe (11. Dezember 2019)
Das Gespräch führte Dr. Cornelia Sussieck, Vorsitzende des VNN
Seine Zukunftsvision:
Ab Februar 2020 möchte er sich um die Hochbegabtenförderung kümmern.
Sein Credo:
Es gibt keine digitale oder analoge Bildung. Es gibt eine Bildung vor dem Hintergrund einer sich digital verändernden Welt.
Sussieck: Wie sieht ein typischer Stundenplan einer 5. oder 9. Klasse aus? Gibt es noch Schulbücher?
Pallesche: Eigentlich wie in jeder anderen Schule auch. Wir haben noch alle Fächer der Stundentafel. Wir rhythmisieren den Unterricht aber und machen 90-Minuten-Einheiten. So wird das Lernen nachhaltiger. Das ist mir wichtig. Denn typisch ist ja eigentlich, dass das Gelernte nach der Klassenarbeit wieder vergessen wird. Zurzeit geht daher die Nachhaltigkeit des Lernens gegen Null.
Sussieck: Wie kann Lernen nachhaltiger werden?
Pallesche: Er muss themenorientiert und phänomenbasiert strukturiert sein, Kinder müssen Anknüpfungspunkte finden. Man könnte zum Beispiel am einfachen Themenfeld Wasser viele wichtige und interessante Inhalte bearbeiten.
Sussieck: Seit wann ist Ihre Schule digital?
Pallesche: Seit 2015. In diesem Jahr wurde die Schule auch zur Gemeinschaftsschule. Vorher war es eine Werkrealschule, also eine ehemalige Hauptschule. Die ersten Gemeinschaftsschüler sind heute in der 9. Klasse. Die Lage der Schule in der Stadt ist eine ganz besondere: Sie liegt genau auf der Grenze zwischen einem Villenviertel und einen Wohnbereich vornehmlich mit Sozialwohnungen. Die Folge: Wir haben eine sehr heterogene Schülerschaft!
Sussieck: Wie kamen Sie darauf, die Schule zu digitalisieren?
Pallesche: Das geschah aus purer Notwendigkeit heraus, um die äußerst heterogene Schülerschaft zu bedienen. Es war die einzige Möglichkeit, den individuellen Anforderungen der einzelnen Jugendlichen gerecht zu werden.
Digitalisierung ist für mich eine Kulturtechnik, die unsere Kinder unbedingt lernen müssen. Sie müssen lernen, wie die digitale Welt funktioniert, um sich sicher darin zu bewegen. Die Umsetzung der neuen didaktischen Konzepte soll dazu führen, dass die Kinder sich für Inhalte interessieren und sie spannend finden.
Schon seit jeher hat das Schulsystem Menschen für die jeweilige Gesellschaft ausgebildet. Das müssen wir auch tun. Unser aktuelles Schulsystem stammt aus der Zeit von vor ca. 200 Jahren. Im Unterschied zu früher ändert sich aber die Gesellschaft sehr schnell. Die jungen Leute, auch die Referendare haben ein anderes Lebensgefühl als wir Älteren: Sie leben viel mehr in einer digitalen Welt. Entscheidungsprozesse finden hier unter Beteiligung vieler statt. Auf diese Welt müssen wir unsere Schüler vorbereiten. Aber Innovationen schaffen wir nur durch die Beteiligung der Menschen, die hier arbeiten. In der Industrie wird ein solches Arbeiten als „New Work“ bezeichnet.
Sussieck: Gibt es auch schlechten digitalen Unterricht?
Pallesche: Ja, wenn man nur versucht, alte Konzepte zu ersetzen. Wenn man zum Beispiel mit der digitalen Tafel nichts anderes macht als vorher mit der Kreide-Tafel. Auch der Begriff „Tablet-Klasse“, wie ihn einige Schulen nutzen, ist mir zu techniklastig. Mit Tablets wird der Unterricht nicht automatisch besser. Viele verwechseln Digitalisierung mit dem Einsatz von digitalen Dingen und unter Beibehaltung alter Methodik und Didaktik.
Sussieck: Warum ist Frontalunterricht Ihrer Meinung nach keine aktuelle Unterrichtsform mehr?
Pallesche: Beim traditionellen Unterricht ist der Redeanteil des Lehrers viel zu hoch. Wir strukturieren den Unterricht so: 1/3 Frontalphase, 1/3 kooperative Phase, das heißt Gruppenarbeit, 1/3 Selbstlernphase. Das Haptische und das Erlebnis sind so wichtig, wenn Schüler beispielsweise die Möglichkeit erhalten, sich mithilfe einer Virtual-Reality-Brille in der Doppelhelix einer DNA aufzuhalten.
Sussieck: Zwar ist Wissen im Internet schnell zu finden, doch bis es „geistiges Eigentum“ eines Schülers oder Menschen ist, muss ja in der Regel mehr passieren als das bloße Durchlesen. Ein engagierter und begeisternder Lehrer oder Vermittler ist da doch eine gute Wahl, oder?
Pallesche: Ja, unbedingt ist ein motivierter und engagierter Lehrender notwendig für das Erleben des Lernens. Geschichten, Spannung können das Lernen nachhaltig machen. Es müssen neue Methoden und Didaktiken entwickelt werden. Räume müssen geöffnet werden, an denen gelernt wird. Warum soll das Lernen nur im Unterrichtsraum stattfinden?
Der Jugend fehlt die Erfahrung der Achtsamkeit ohne Medien. Sie sind dauer-online und müssen das Abschalten lernen. Deshalb ermöglichen wir die Entwicklung von Fähigkeiten an bestimmten Orten. Wir kooperieren beispielsweise mit dem nahen Mehrgenerationenhaus. Die Schüler gehen dorthin, beraten die Älteren in punkto digitalen Fragestellungen, sie machen dort Praktika und erleben Dinge, die sie für ihr Leben nicht mehr vergessen werden. Durch das Erlebnis erfolgt der Effekt der notwendigen Werteentwicklung. In einem Nebengebäude des Schulhauses ist das „Wunderland“ untergebracht. Hier gibt es viele verschiedene Räume, denen bestimmte Funktionen zugewiesen werden. So gibt es hier zum Beispiel ein „Ideenbüro“, in dem die Schüler, Lehrer und Eltern ihre Ideen für Unterricht und Schule abgeben können. Der „Maker Space“ ist eine Art Werkstatt und Filmraum, in dem beispielsweise Erklärfilme von Schülern für Schüler hergestellt werden, die auch von den Lehrern im Unterricht verwendet werden.
Sussieck: Wer hat die Digitalisierung bezahlt und wer trägt die laufenden Kosten?
Pallesche: Die Stadt Karlsruhe ist sehr großzügig bei der Unterstützung von Schulen. Die Schule trägt sich daneben im Wesentlichen durch drei Quellen: Sponsoring, Stiftungen und die vielen Preise, die sie gewinnt und die mit Geld verbunden sind.
Sussieck: Haben Sie auch schlechte Erfahrungen mit der Digitalisierung gemacht? Haben Sie Anfangsfehler gemacht? Wer hat Sie beraten und unterstützt? Woher kommt das pädagogische Konzept?
Pallesche: Wir haben das meiste selbst gemacht. Unterstützung erhielten wir durch unsere zahlreichen Kooperationspartner, wie das Stadt- und Landesmedienzentrum, die Hochschule der Medien in Stuttgart, aber auch lokale und überregionale Firmen.
Sussieck: Könnte die Zusammenarbeit mit einem externen Bildungsanbieter, z.B. einer Nachhilfeschule, Ihrer Schule helfen? Sie werden ja auch unterstützt von anderen externen Anbietern?
Pallesche: Das wäre ideal! So läuft alles nebeneinander her.
Sussieck: Welches Selbstverständnis haben Sie als Schulleiter?
Pallesche: Ich fühle mich als Ermöglicher – bei Lehrern und bei Schülern. Die Menschen an der Schule müssen die Ideen weitertragen.
Sussieck: Welche Verbesserungsvorschläge haben Sie an die „Politik“?
Pallesche: Die Politiker sollten sich einmal gute Bildungssystem im Ausland, wie beispielsweise in Estland oder Skandinavien anschauen. Politik ist leider meist nur ein Fünf-Jahresgeschäft. (Positive) Veränderungen in der Bildungswelt sind oftmals allerdings erst deutlich später sichtbar.