Verdrängte Lebenserfahrung! Wenn Kinder zu früh auf Tablets wischen
Von Ingo Leipner, Bündnis für humane Bildung
Der Begriff „digitale Bildung“ hat keinen Inhalt, weil Bildung nicht auf Bits und Bytes beruht. Im Gegenteil: Gerade in Kindergarten und Grundschule müssen Kinder reale Erfahrungen machen (Singen, Tanzen, Malen). Das fördert ihre kognitive Entwicklung - und ist evolutionär so vorgesehen. Es geht um die senso-motorische Integration: Erst das aktive Zusammenspiel von Sinneserfahrungen (senso) und körperlicher Betätigung (motorisch) schafft die Grundlagen, damit sich Kinder geistig entwickeln. Sitzen sie aber lange Zeit vor Bildschirmen, reduziert sich die Zahl der Sinneseindrücke; am Ende bleiben visuelle und akustische Reize übrig. Die Kinder „erstarren“ in ihren Bewegungen, weil sie wie gebannt auf den Bildschirm blicken. Gegenargument: Es geht beides, analoges und virtuelles Leben … Nein! Die hohe Nutzungszeit bei Kindern zeigt: Virtuelle Erfahrungen verdrängen zunehmend das reale Leben.
Und weiterführende Schulen? Da ist eine aktive statt passive Medienarbeit gefragt! Passiv bedeutet: Scheinbar individualisierte Lernprogramme zerstören das klassenöffentliche Lernen und werden zum Datenstaubsauger für kommerzielle Anbieter. Statt individueller Förderung durch Menschen droht eine Atomisierung sozialer Bezüge durch Algorithmen. Aktiv heißt: Medienmündigkeit entwickeln! Indem Schüler die Vielfalt digitaler Technologie beherrschen lernen, um selbst Medienprodukte zu erstellen (Websites, Videos, Texte). Voraussetzung: kritisches Denken und Reflexionsfähigkeit, laut Jean Piaget etwa ab dem 12. Lebensjahr zu erwarten.
Dipl.-Volkswirt Ingo Leipner, Co-Autor der Bücher „Die Lüge der Digitalen Bildung“ (Redline) und „Heute mal bildschirmfrei“ (Knaur). https://www.ecowords.de
„Bündnis für humane Bildung“: http://www.aufwach-s-en.de
Dr. Susanne Eisenmann, Ministerin für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg, in ihrem Schreiben an den VNN vom 12.9.2019
„Digitalisierung an den Schulen kann nur gelingen, wenn neben einer funktionierenden digitalen Infrastruktur auch passgenaue pädagogische Konzepte vorliegen. Aus diesem Grund werden bei uns in Baden-Württemberg im Rahmen des Digitalpakts nur Förderanträge genehmigt, die auf einem durchdachten Medienentwicklungsplan fußen. Anträge können ab dem 1. Oktober direkt bei der L-Bank eingereicht werden, die Budgets sind für unsere Schulträger bis zum 30. April 2022 reserviert. Ihnen bleibt also genügend Zeit, fundierte Konzepte zu entwickeln, die zum jeweiligen Schulstandort passen und die methodisch-didaktische Integration digitaler Technologie im Unterricht verfolgen. Das Landesmedienzentrum sowie die Medienzentren im Land unterstützen die Schulen dabei, ganz frisch gibt es hier auch eine neue App namens MEP BW zum dazugehörigen Online-Tool. Zudem helfen unsere Digitalisierungshinweise den Schulen mit praktischen Beispielen bei der Erstellung und Umsetzung der Medienentwicklungspläne.
Gerade weil es mir wichtig ist, dass Digitalisierung in der Schule auf einem fundierten pädagogischen Konzept basiert, haben wir diese Digitalisierungshinweise überarbeitet und bieten den Schulen und Trägern damit die für sie notwendige Flexibilität, um ein auf ihre jeweiligen Voraussetzungen abgestimmtes Konzept zu erarbeiten. Denn nur weil in einer Schule beispielsweise 100 Tablets zur Verfügung stehen, macht das den Unterricht noch lange nicht besser. Die Technologien müssen klug und additiv eingesetzt werden, zumal die Digitalisierung ohnehin nicht das Allheilmittel für alle schulischen Herausforderungen ist. Im Mittelpunkt eines guten Unterrichts stehen immer noch die Lehrerinnen und Lehrer. Wir wollen die 650 Millionen Euro aus dem Digitalpakt folglich nachhaltig sowie zielführend, also auch in Zusammenarbeit mit Lehrenden und Lernenden einsetzen und sie nicht konzeptlos in Tablets oder Whiteboards stecken.
Dabei möchte ich betonen, dass die Qualität eines Unterrichts nicht automatisch hochwertiger ist, nur weil er digitaler abläuft. Deshalb lege ich weiterhin großen Wert auf die Basiskompetenzen wie Rechnen, Lesen, Schreiben – und deshalb wird das analoge Unterrichten auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen. Dies reduziert aber keineswegs unsere Anstrengungen in puncto Digitalisierung, und damit auch in Bezug auf den Breitbandausbau. Zumal wir hier Nachholbedarf haben, auch bei den Schulen. Weitere Investitionen sind unumgänglich, und wir bemühen uns als Landesregierung nach Kräften. Beispielsweise existiert für die Kommunen ein umfangreiches Förderprogramm zum Ausbau der Breitbandversorgung, und davon profitieren auch die Schulen in Baden-Württemberg. Zudem möchte ich in diesem Zusammenhang auch auf den Sondertopf für Schulen im Rahmen des Bundesförderprogramms Breitband verweisen.
Doch selbst eine hervorragende digitale Ausstattung und das beste pädagogische Konzept bilden nur die Grundlage für den Erwerb digitaler Kompetenzen. Digitale Bildung ist ein Kraftakt, den alle meistern müssen. Bund und Land – aber auch Lehrkräfte, Eltern und Schüler selbst. Daher haben wir ein Fortbildungskonzept für unsere Lehrerinnen und Lehrer erarbeitet, und unsere Fortbildungsoffensive mit einer Größenordnung von fünf Millionen Euro greift bereits in diesem Schuljahr. Daher ist das Thema Medienbildung in unseren Bildungsplänen vielfach verankert, es zieht sich wie ein roter Faden durch den Bildungsweg unserer Kinder und kreuzt diesen in verschiedenen Fächern und Altersstufen. Zudem flankieren Projekte wie #RespektBW die Medienbildung. Dieses setzt ein deutliches Zeichen gegen Hass, Hetze und Fake News im Internet und fördert Toleranz, Werte sowie die Informationskompetenz der Schülerinnen und Schüler.
Bereits vor dem Inkrafttreten des Digitalpakts haben wir mit unserer Anschubfinanzierung in Höhe von 150 Millionen Euro die Weichen gestellt, Informatikangebote sind schon ausgebaut worden, es laufen auch bereits Tablet-Projekte zur Erprobung mobiler Endgeräte im Unterricht an etwa 100 Schulstandorten sowie Leuchtturmprojekte zum 3D-Druck und zur VR-AR-Technologie, und wir arbeiten an einer digitalen Bildungsplattform. Wir haben damit bereits viele Haken auf der Vorbereitungscheckliste zur Digitalisierung gesetzt, und der Digitalpakt wird unsere Schulen zusammen mit den anderen erwähnten Maßnahmen und Programmen einen großen Schritt voranbringen.
Baden-Württemberg ist bei der Digitalisierung im Schulbereich gut aufgestellt. Uns muss aber allen bewusst sein, dass guter digitalisierter Unterricht eine Daueraufgabe bleiben wird. Deshalb soll sich die Medienentwicklungsplanung auch als verbindlicher Bestandteil der Schul- und Unterrichtsentwicklung etablieren. Und dabei hilft auch ein Blick auf Vorbilder. In diesem Zusammenhang ist die Einrichtung sogenannter Future-Learning-Labs ein weiteres Element unserer Qualifizierungsoffensive. Dabei machen Schulen mit besonderer Expertise im Bereich der Digitalisierung ihr Wissen und Können anderen Schulen zugänglich. Solche best-practice-Beispiele sind anschaulich und liefern darüber hinaus einen Ansporn, ihnen nachzueifern. Das ist wichtig, denn die Digitalisierung wird unsere Gesellschaft auch in Zukunft weiter prägen und verändern – und wir alle müssen auf diese Entwicklung reagieren, auch an den Schulen.“